Florian

22.
Aug
2016

Wir sind im Jahr 2100. Mein Name ist Florian und ich bin schwul. Viele von Euch denken jetzt: na und? In meiner Welt ist „schwul sein“ verboten.

Anfang der 2020er begann eine Welle des Nationalsozialismusses nach Europa zu schwappen. Immer mehr Stimmen von rechtsradikalen wurden laut und propagierten von einem „homofreien“ Europa. Dem schlossen sich mit den Jahren die beiden größten Kirchen der Welt an.

Zuwachs bekamen Rechtsradikale und Kirchen von den arabischen Ländern und Afrika. Mit ihren Ansichten und Vorurteilen überfluteten sie die Medien und sozialen Netzwerken wie Twitter, Instagram und Facebook. Nach kurzer Zeit entwickelte sich ein gezielter Hass auf homosexuelle Männer.

Katholische Ärzte verkündeten eine Heilung der Homosexualität gefunden zu haben. Mit dieser geballten antihomosexuellen Bewegung, knickten die europäischen Regierungen ein. Der §175 wurde in Deutschland in einer weit aus stärkeren Form wiedereingeführt. Andere Länder übernahmen den Inhalt.

Menschenrechtsorganisationen protestierten weltweit vergebens dagegen. Die Schwulenbewegung ging sogar soweit, Attentate auf Politiker und Kirchenvertreter zu begehen. Was sie nicht wussten, sie machten es nur noch schlimmer und spielten den rechtsradikalen in die Hände. Mit Unterstützung der Kirche riefen die „Feinde der Vielfalt“ ein Rekonditionierungsprogramm ins Leben, welches von einem Institut aus kontrolliert und verwaltet wurde. Das „Zentrum für Rekonditionierung“ kurz ZFR. Von nun an wurden Homosexuelle nicht einfach weggesperrt, sondern rekondiniert. Unter Elektroschocktherapie und Folter werden sie zur Kastration und zur Einwilligung von Scheinehen gezwungen. Für die Öffentlichkeit gelten sie als geheilt.

Innerlich sterben sie und wurden zu leeren Hüllen, die für die Drecksarbeit der neuen Gesellschaft schuften. Viele sterben während der Rekonditionierung. Die nicht „aufgefundenen“ Schwulen und Lesben, verstecken sich. Transgender sind Mitte der 2050er von der Bildfläche der Gesellschaft verschwunden; „nicht therapierbar“ heißt es. Um versteckte „Homos“ zu finden, sind Preisgelder, Kopfgelder und Prämien eingeführt. Menschen melden vermeintliche Homosexuelle auch wegen Geldes wegen. Es ist Gang und Gebe, unliebsame Mitmenschen auf diese Art von der Bildfläche verschwinden zu lassen.

Ich arbeite in dem Pharmaunternehmen ZOZISU. Hier werden Schmerzmedikamente hergestellt und ein Großteil wird in das ZFR geliefert. In meiner Abteilung sind wir zu fünft. Udo – der sechste – wurde erst vor ein paar Monaten von den Mitarbeitern des ZFR abgeholt. Ich habe leider noch nicht herausgefunden, wer ihn gemeldet hat. Ich zeige ich mich so „unschwul“ wie es mir nur möglich ist. In der Mittagspause rede ich mit meinen Kollegen über Brüste und wie viele Frauen ich schon flachgelegt habe. Allgemein ist die Gesellschaft rein sexistisch. Frauen werden auf die niedersten Bedürfnisse herabgestuft – Rechte haben Frauen schon lange keine mehr.

Um überhaupt mitreden zu können, habe ich mir Heteropornos angesehen – Pornos sind allgegenwärtig und man bekommt jede Art an Videomaterial. Mein Kollege Jan ist schwul, das durfte ich herausfinden. Carsten und Leon spielen sich als hetero Männer aus, wie es propagiert wird. Luis allerdings durchschaue ich nicht. In unbeobachteten Momenten verhält er sich sehr feminin – heute ein Schimpfwort.

Heute ist Teambesprechung. Bei Kaffee und Kuchen besprechen wir mit unserem Chef Dr. Kiefer unsere Leistung und Arbeit. Zu unserer Überraschung ist Dr. Kiefer nicht alleine in seinem Büro. Zwei Männer in schwarzen Anzügen stehen neben ihm. „Guten Tag, die Herren sind vom ZFR. Ihnen wurde ein Vorfall gemeldet.“ Mir bricht der Schweiß aus, mein Herz rast. „Herr Powsy, sie haben einen Vorfall gemeldet, bitte schildern sie diesen.“ Luis tritt vor und schaut mir in die Augen, „Ja, das habe ich. Ich hege den Verdacht, dass Jan Munzo die Straftat des homosexuellen Handelns ausübt.“ Alle Blicke richten sich auf Jan. Dieser schluchzt: „Bitte nicht. Bitte lasst mich in Ruhe“. Die Männer packen ihn und zerren ihn hinaus. „Schon wieder jemand aus meiner Firma. Ich hoffe es hört bald auf mit diesen kranken Menschen“ gibt uns Dr. Kiefer zu verstehen.

Den Rest der Besprechung höre ich gar nicht zu. Mein Herz rast immer noch und Jan tut mir sehr leid. Ich bin erleichtert, dass ich nicht mitgenommen wurde und mein Herz ist sehr schwer. Ich mochte Jan.

Als die Besprechung zu Ende ist, greift Luis meine Hand. „Flo, wie sieht’s aus? Hast du noch was vor?“ Ich blicke ihn fragend an, „Was soll ich noch vorhaben, ich fahre nach Hause.“ „Wollen wir nicht ein paar Stunden zusammen verbringen? – Du bist bestimmt nicht so dumm wie Udo und Jan“. Ich schaue ihn rätselnd an: „Soll das heißen, du hast sie nur verpfiffen, weil sie nicht mit dir in die Kiste hüpfen wollten?“ „Mich lässt keiner so einfach abblitzen und wenn ein normaler Bürger seiner Pflicht nachkommt, wird er natürlich nicht weiter verdächtigt, oder?“ sagt er mit einem ekligen Grinsen. Seine Hand gleitet meinem Arm herunter, doch ich erwidere: „Lass‘ die Finger von mir“ und stoß ihn weg.

So schnell ich kann drehe ich mich um und will weg. „Warte mal“, spricht Luis, „nicht, dass du jetzt was Falsches machst. Ich sage nix und du sagst nichts, okay?“. Meine Antwort ist meine Faust in seinem Gesicht.

Vor meiner Wohnung überkommt mich das Gefühl der Einsamkeit. Ich kann – nein, ich darf – jetzt nicht alleine sein. Mit dem Bus fahre ich ein paar Straßen weiter. Ein großes Ziegelsteingebäude rage zwischen den Reihenhäusern hervor. Hinter dem Gebäude befindet sich eine Holzplatte und dahinter war eine Tür eingelassen. Wenn man nicht weiß, dass hier ein Eingang ist, findet man diesen auch nicht. Ich steige die Treppen herunter, warmes buntes Licht strahlt unter der Stahltür hervor. Musik erklingt leise. Dreimal schnell und zweimal kurz klopfen und ein großer Mann öffnet die Tür. „Ich wünsche einen guten Abend Klaus. Ist heute viel los?“ Klaus schüttelt bedacht den Kopf.

„Es werden immer weniger Flo. Bald müssen wir hier weg, es ist sehr gefährlich geworden.“ Ich nehme ihn in den Arm und betrete den Raum. Eine Theke durchzieht den Raum, an der Decke hängt eine alte kaputte Diskokugel. Vier Gäste sitzen schwatzend an der Theke und hinter dieser steht Benny. Ich laufe zu Benny und nehme ihn in den Arm. Wir küssten uns. „Hi, mein Schatz. Ist alles in Ordnung?“ frag er. Ich schüttle den Kopf und vergrabe mein Gesicht in seinem Hemd.

Gesprächsfetzen dringen in mein Ohr: „Habt ihr es schon gehört? Lesben, werden nicht mehr rekonditioniert. Sie werden gemeldet und können dann von Mitarbeitern des ZFR für Feiern und Orgien gebucht werden.“ „Das ist ja fast genauso krank, wie das Verbot der bunten Kleidung“, erwidert ein anderer Gast.

„Möchtest du drüber reden“ fragt mich Benny in einem liebevollen Ton. „Ich möchte hier weg. Ich möchte mit dir weg“ flüstere ich ihm ins Ohr. Ich erzähle ihm von meinem schrecklichen Tag. „Ich möchte, dass du heute hier schläfst. Ich werde meine Sachen holen und auch deine und dann fahren wir weg von hier.“ „Wirklich? Wir gehen weg?“ „Ja, Flo. Ich will dich nicht länger in dieser Gefahr wissen. Morgen verschwinden wir.“ Ein paar Stunden später sind die anderen Gäste weg. Benny zieht sein buntes Hemd aus und ich bewundere seine Muskeln. Mit einem Grinsen blickt er zu mir auf. „Ich werde nicht lange weg sein. Warte hier auf mich. Ich liebe dich.“ Er gibt mir einen Kuss und geht die Tür hinaus.

Ich warte einen Tag vergebens auf Benny. Er ist nicht zurückgekommen.

Die Türen wackeln, Taschenlampen leuchten in den dunklen Raum. Sie haben mich gefunden. Jemand hat geredet. Zwei Männer packen mich und zerren mich in einen schwarzen Bus. Ich kann alles sehen, doch mich sieht keiner. Zu meiner Überraschung halten wir bei meinem Arbeitgeber an. Die Tür geht auf und Luis wird in den Wagen geworfen. Dr. Kiefer schimpft verzweifelt: „Die Schwuchteln haben sich bei mir eingeschlichen und mich ruiniert.“ Die Tür wird zugeschlagen und Luis liegt weinend am Boden. Ich schaue ihn an und empfinde keine Abscheu, sondern nur Mitleid. Mitleid für uns beide.

Durch die Scheiben des Busses sehe ich den Zaun, der das ZFR umgibt. Der Wagen parkt und mein Herz schlägt bis zum Hals. Die Türen werden aufgerissen, vier Männer packen Luis und mich. Durch einen weißen Flur werden wir jeweils in einen Untersuchungsraum gebracht. Ein Mann kommt in den Raum und legt mir Handschellen und Fußfesseln an. Ein zweiter, weiß gekleideter Mann kommt mit einer Nierenschale herein. Ohne ein Wort packt er meinen Arm und entnimmt mir Blut, während er etwas von „es wird auf Infektionen getestet“ murmelt.

Ich werde in einen Duschraum, an dessen Wänden sich Halterungen für Hände und Füße befinden, gebracht. Ich werde eingespannt und einer der Männer schneidet mit einer Schere meine Kleidung auf. Dabei schneidet er mich am Bauch und Beinen. Ich beiße die Zähne zusammen. Kein Laut entkommt meinen Lippen, wer weiß ob dies nicht noch ein Anreiz für sie wäre. Mit einem Schlauch werde ich abgespritzt.

Später sehe ich mich in einer kleinen Zelle wieder. Ein Feldbett und ein Stapel Kleidung in rosa, mehr gibt es in der Zelle nicht. Ich kleide mich an, während mir eine Flasche Wasser und ein Müsliriegel durch die Tür gereicht wird. Ich höre Schreie. Schreie vor Schmerzen. Die Zelle riecht nach Exkrementen und Erbrochenem.

Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen ist, als meine Zellentür geöffnet wird. Es sind wieder die gleichen zwei Männer, die mich abgeholt haben. Der eine Packt mich vorne, der andere schiebt meine Hose herunter. Ich spüre sein pochendes Glied: „Das magst du doch.“ Der andere hält mir den Mund zu. Tränen laufen mir über die Wangen, ich schluchze. Doch den beiden ist es egal.

Nach der Vergewaltigung bringen sie mich in einen Untersuchungsraum. In diesem wartet ein Mann im weißen Kittel. Auf einem großen Stuhl in der Mitte des Raumes werde ich angeschnallt und mit Elektroden versehen.

Einfach nur Schmerz. Ich fühle wie etwas in meinem Kopf explodiert.

Als ich aufwache liege ich wieder in meiner Zelle. Luis liegt neben mir. Er atmet nicht mehr. Ich versuche ihn zu reanimieren, aber es ist zu spät und mir fehlt die Kraft, immer wieder breche ich zusammen. Selbst wenn ich es schaffen würde, es würde sein Leiden nur noch verlängern, denke ich mir. Das Licht geht an, die zwei Männer holen die Leiche von Luis ab. Ich bin wieder allein in der Dunkelheit.

Dunkelheit umgibt mich. Ich höre leise Stimmen, Stimmen die meinen Namen flüstern. Plötzlich erklingt Schlüssel klirren, jemand packt und schüttelt mich. Ich höre meinen Namen. „Flo, Flo wach auf.“ Langsam öffne ich die Augen. Das Licht blendet mich, vor Schmerz kneife ich die Augen wieder zu und öffne sie erneut. Benny sitzt neben mir der Fahrtwind spielt mit seinen Haaren, er lächelt mich an. Ich lächle zurück.